Schmerzens Kinder
Schmerzens Kinder
Von Friedrich Lautemann
„Heute mit H. über die menschliche Roheit gesprochen. Er kommt eben von der Ostfront her und hat jenes Massaker erlebt, in dem man in K.30.000 Juden abschlachtete. An einem einzigen Tage, in einer knappen Stunde, und da die Maschinengewehrmunition nicht ausreichte, nahm man Flammenwerfer zu Hilfe, und aus der ganzen Stadt, um dieses Spektakel anzusehen, drängten sich dienstfreie Mannschaften hinzu; junge Burschen von neunzehn, zwanzig, mit
Milchgesichtern. O Schmach, o Leben ohne Ehre.“
Fritz von Reck-Malleczewen, Schriftsteller und bayrischer Monarchist
1.
Die Ursachenforschung zerstörerischer Handlungen hat dank der Erkenntnisse einzelner Psychoanalytiker und Schriftsteller wie Arno Gruen (Der Wahnsinn der Normalität) die immer wieder gleichen Programmierungen in der frühen Kindheit erhellt. Danach tendiert das männliche Bewusstsein dazu, Leid und Schmerz zu negieren. Sind aus den Kindern von einst Männer geworden, haben die nach innen gerichteten gefühlsbetonten (und oftmals als weiblich verunglimpften) Wahrnehmungen wie Mitgefühl und Trauer einen geringen oder keinen Stellenwert mehr. Die Helden von einst wie beispielsweise Friedrich der Große, Adolf Hitler und sein Generalfeldmarschall Friedrich Paulus haben Millionen von Menschen unter ihrer Befehlsgewalt in den Tod geschickt. Die Terroristen von heute, die das Töten zu ihrem Handwerk gemacht haben, sind aus denselben Gründen erbarmungslos: das Emotionale wird nicht mehr vermittelt.
Die „Schreckens Männer“, die Verursacher von Unheil und Leid der Menschheit im (quantitativ) Großen und im Kleinen, waren Opfer, die zu Tätern wurden. Angst, Terror, Verzweiflung und unerträgliche Hilflosigkeit hat sie einst gezwungen, den Druck wegzusperren, der ihnen ihr Kinderschicksal auferlegt und sie später posthum zu „Helden“ gemacht hat.
2.
„Der Erbe Brandenburgs Friedrich Wilhelm (der Vater Friedrichs des Großen) ritt aus der Schlacht, ein Grübler. Sein anklagender Hass gegen den Bourbonen und den Habsburger wurde sehr groß... Der Königssohn trat seine
Pilgerfahrt an durch die Nacht des Todes, die Söhne des Landes zu suchen, dessen Fürst er einmal werden sollte. Aber hier blieb er schon bei einem Dänen stehen; dem bettete er den Kopf auf den Mantel, den er einem Toten ausgezogen hatte. Und dort befreite er einen ächzenden Portugiesen, der sich nicht vom Fleck bewegen konnte, von der Last des über ihn gestürzten Pferdeleichnams. Mehr vermochte er nicht zu helfen...Überall suchten Söldner mit flackernden Laternen das Feld ab, in Gebüschen, unter Kanonentrümmern, bei zersplitterten Bäumen. Überall stützten sie Sterbende, tränkten sie Verdurstende, verbanden sie Blutende; und als vermöchte es eine Linderung des Geschickes bedeuten, strichen sie den Toten über die Lider.
Als er einsah, dass es kein Helfen gab in dieser Nacht des Leidens, hockte er sich auf einen Baumstumpf und sah den Lichtern nach. Was der Morgen ihm enthüllen würde, machte ihn zur Nacht schon frösteln. Er wollte hin zu den Laternen. Er ging den Trägern nach. Vier Männer schleppten einen, voran schritt einer mit dem Stalllicht. Sie hatten ein Haus am Feldrand entdeckt. Die
Dörfer waren fern, und ihre geringe Zahl vermochte das Heer der Verblutenden nicht zu fassen.“
Jochen Klepper (1903 bis 1942), der große deutsche Romancier mit jüdischem Schicksal, beschreibt in seinem bewegenden historischen
Roman „Der Vater“ die Geschichte der Hohenzollern. Dazu gehört das Schicksal Friedrich Wilhelms, der Erstgeborene von Friedrich I. und das von Friedrich II. Dieser war der als Dritter geborene Sohn. Kronprinz und König wurde Friedrich II., weil zwei vor ihm Geborene männlichen Geschlechts bei der Taufe starben. Das Taufschicksal des zweiten Kleinkindes des Kronprinzenpaares Sophie Dorothea und Friedrich Wilhelm schildert Jochen Klepper so:
„Wieder trug ein Sohn den Reichsapfel, das Ordensband, die Krone und das Zepter... Als sie den Knaben über das silberne Becken mit dem geweihten Jordanwasser hielten und die Krone emporhoben, das Haupt des hohen Kindes mit den Tropfen der heiligen Flut zu netzen, sah er (der Vater Friedrich Wilhelm) den blutenden Riss. Dort, wo der Rand der Krone sich in den bleichen Schläfen breit und dunkel abgezeichnet hatte, war das Wundmal eingegraben. Sie senkten die Krone auf das ungestillte Blut... Der Hof tat alles, die Wirren und Leiden dieser Stunden in weite Zukunft hin zu mehren... Ein Wort des Knaben Friedrich Wilhelm war wieder
im Umlauf: „Der Teufel hole mich! Wann ich werde groß werden, will ich sie alle miteinander aufhängen lassen und ihnen den Kopf abhauen!“
3.
Dass Menschen anderen Menschen das antun, was man ihnen angetan hat, gehört heute zum psychologischen Allgemeinwissen. Das Universum ist auch in diesem Sinn eine große Kopiermaschine. Moralische Gebote und Gesetze vermögen dagegen nichts. Wie der schwache König in Preußen (nicht König von Preußen!) Friedrich I. seinen eigensinnigen Sohn Friedrich Wilhelm quälte und herabsetzte, so misshandelte und demütigte letzterer seinen Sohn, als er Vater vom „Fritzchen“ war. Der vom Sohn bedingungs- und gnadenlos abverlangte Gehorsam führte 1730 zum Fluchtversuch Friedrichs mit seinem Freund, dem Leutnant Katte nach England, um sich den väterlichen Misshandlungen zu entziehen. Friedrich Wilhelm ließ beide verhaften und sperrte sie in der Festung Küstrin ein. Der Vater zwang seinen Sohn, die Enthauptung seines Freundes anzusehen. Friedrich selbst kam mit dem Leben davon, weil er dem königlichen Geschlecht angehörte und sich dem Vater unterwarf. Er stellte seine Interessen für Philosophie und Kunst zurück und drillte Soldaten. Vater und Sohn versöhnten sich auf dem Sterbelager des Vaters. Doch die Regungen in ihrer beider Seelen waren zeitlebens Rache und Hass. Kaum war Friedrich 1740 gekrönt, eroberte er gegen jedes Recht Schlesien. Er, Machtpolitiker aus verdrängtem eigenem Leid und Familienschicksal, schickte schätzungsweise eine Million Menschen in den Tod. Kein Wunder, dass er von den Historikern später Friedrich der Große genannt wurde. Friedrich der Schmerzvolle oder Friedrich der Totschläger wäre eine bessere Charakterisierung des Kriegsherrn. Seine Gebietsroberungen waren wie die von Hitler nur von kurzer Dauer. Außerhalb des Schlachtfeldes spielte er Flöte und diskutierte mit seinem Freund-Feind Voltaire. Man kann annehmen, dass beide Männer sich so mochten wie Hitler und Speer.
3.
Der Machtwille und Trieb nach Status verlangen unbewusst und gesetzmäßig die Unterwerfung anderer: dies gilt sowohl für die Mächtigen ganz oben in den jeweiligen Hierarchien als auch für diejenigen, welche sich mit der Teilhabe an der Macht zufrieden geben müssen (aus welchen Gründen auch immer). Unterwerfung wird zu einem Zwang und zu einem Genuss. Am Tiefsten haben sie sich danach gesehnt, sich über ihre Mitmenschen zu stellen. Wir wissen, wie selten es ist, dass sich Menschen vor die Wahl, Liebe oder Macht gestellt, für die Liebe entscheiden. Der Thronverzicht aus Liebe ist, um ein Beispiel zu nennen, eine Rarität. Macht sucht sich seine Opfer; der Diktator genau so wie der nutzlose Bürokrat. Sie werden benötigt, um bestrafen zu können, unabhängig von Tat und Täter. Strafe als Selbstzweck erleichtert. Umberto Eco hat, wie die Bestrafung um ihrer selbst willen ein Eigenleben führt, in seinem Meisterwerk „Der Name der Rose“ geschildert. Der Ruf nach Bestrafung dreht sich (fast) nie um Gerechtigkeit. Es ist die uns anerzogene Wertlosigkeit, die zu diesem Trieb nach
Bestrafung führt (Arno Gruen).
Friedrich Paulus, Hitlers Generalfeldmarschall, der die in Stalingrad aufgeriebene 6. Armee bis zum bitteren Ende seinem Führer treu ergeben befehligte, war der vielleicht reaktionärste und konservativste unter Hitlers Generalen. Bedingungsloser Gehorsam und blinder Glaube an Adolf Hitler haben ihm die soldatische Karriere im „Tausendjährigen Dritten Reich“ geebnet und ihn so lange es ging an der Macht teilhaben lassen. Er handelte nicht mehr nach eigener Verantwortung, (und verzichtete auf den Versuch aus dem Kessel von Stalingrad auszubrechen) sondern berief sich auf fehlerfreie Entscheidungen von oben. Er – ein Mann von edler bürgerlicher Denkweise, scharfem Intellekt und künstlerischen Neigungen beteiligte sich an dem deutschen Überfall der Sowjetunion und befahl, zu töten, bis er selbst in Stalingrad in russische Kriegsgefangenschaft geriet. Um sich dem roten Diktator, dem Erzfeind von gestern, zu nähern, schlug er Stalin vor, eine „Deutsche Befreiungsarmee“ aus in russische Gefangenschaft geratenen deutschen Wehrmachtsangehörigen aufzustellen (Himmler hoffte in Deutschland aus sowjetischen
Kriegsgefangenen zehn Divisionen aufzustellen). Paulus hatte in Deutschland seine Frau und seine beiden Kinder und wollte so früh wie möglich nach Hause. Vor allem an Weihnachten vermisste er sie sehr. Über sein Leben im Objekt 20 W im Moskauer Vorort Planernoje mit einem Koch und einer Ordonnanz von zwei im Krieg ebenfalls in Gefangenschaft geratenen deutschen Soldaten ist von ihm überliefert: „...Hier herrscht eine angenehme Atmosphäre. Nach unseren kameradschaftlichen Gesprächen sagten die russischen Generale zu mir: ‚Ihnen, Feldmarschall, vertrauen wir voll und ganz. Wirklich, sympathische Menschen’. Zu den unterschiedlichen Verpflegungssätzen sagte Paulus: „Die Russen handeln richtig, wenn sie die Verpflegungssätze für Generale, Offiziere und Soldaten unterschiedlich ansetzen. Soll etwa einem General und einem Soldaten das gleiche zustehen? Jeder erhält dienstgradmäßig, und das ist richtig.“ (Quelle: Leonid Reschin „Feldmarschall Friedrich Paulus im Kreuzverhör“)
Solcher Verrat wird mit dem Verrat an sich selbst in der frühen Kindheit eingeübt, um an der halluzinierten elterlichen Macht teil zu haben. Von den unbeantwortet gebliebenen Briefen von Paulus an Stalin sei derjenige aus Anlass zu Stalins 70. Geburtstag zitiert:
„Herr Generalissimus!
Millionen friedliebender, fortschrittlicher Menschen aus aller Welt vereinen sich in diesen Tagen mit den Völkern der Sowjet-
Union, um Ihnen anlässlich Ihres 70. Geburtstages die Wünsche für Ihr Wohlergehen und für weitere Erfolge im großen Friedenswerk darzubringen. Gestatten Sie, dass auch wir, die wir einst im blinden Gehorsam als Feinde in Ihr Land einbrachen, heute Ihnen als dem großherzigen Freund des deutschen Volkes unsere aufrichtigen Glückwünsche aussprechen. Es war kein leichter Weg für uns von Stalingrad bis zu diesem Glückwunsch. Umso mehr können Sie versichert sein, dass auch wir nach Rückkehr in die Heimat alle unsere Kräfte einsetzen werden, um durch Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft Ihr großes Menschheitsziel, den Frieden, fördern zu helfen.“
Die Rückkehr dauerte zehn Jahre und endete nach einem Treffen mit Walter Ulbricht und seiner Frau auf deren Datscha mit der Repatriierung des ehemaligen Feldmarschalls des deutschen Heeres in der DDR. Die beiden Männer verstanden sich prächtig. Sie wirkten, ein jeder an seiner Stelle, für die Völkerverständigung
und den Frieden, indem sie die Menschen im kleineren Bevölkerungsteil des gespaltenen Deutschland nach der nationalsozialistischen in sozialistischer Knechtschaft hielten.